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Wahrheit - Was ist das?

Lange sehen sich die beiden Gefangenen an. Jesus,Gefangener des Hasses, und Pilatus, Gefangener der
Angst. Jesus sieht sein Gegenüber: ein armer Kerl invornehmen Kleidern! Gefangen in seiner Angst vor
dem Machtverlust. Vor dem einen Fehler, der ihn bei denen in Rom in Ungnade fallen lässt. In der Angst
vor den Intrigen und Lügen der undurchschaubaren Männer, die in seiner Stadt das Sagen haben. Angst vor Göttern und bösen Geistern, die seine Frau und ihn bis in den Traum verfolgen.
Dieser Statthalter kennt die Wahrheit: über seine Macht als „Herr über Leben und Tod“, die aber nur geliehen ist, am seidenen Faden hängt. Er weiß die Wahrheit über diesen Prozess, der von Anfang an eine große Lüge war und nur dazu dient, einen aus dem Weg zu räumen, der den anderen nicht passt. Die Wahrheit über die tiefe Religiosität dieser Stadt, die oft nur ein Deckmantel ist für Geldgier, Macht und Eitelkeit.

Die Wahrheit über die Herzen dieser Untertanen, die dem Kaiser in Rom ewige Treue und Gehorsam schwören und mit seinem Statthalter nur auf der Straße vor dem Palast reden – weil sie nicht in das Haus eines Mannes gehen, den sie zugleich heuchlerisch ehren und offen verachten.
Pilatus sieht sein Gegenüber: ein armer Kerl in vornehmen Kleidern! Der Purpurmantel würde einem
König gut stehen, aber dieser „König“ trägt ihn nur zum Spott. Sie haben ihn gequält heute Nacht. Nicht
weil er sich etwas hat zuschulden kommen lassen, sondern nur, um ihm mal zu zeigen, wer die Macht hat.
Will er das nicht endlich anerkennen? Pilatus baut ihm die goldene Brücke: Spürst du jetzt nicht am eigenen Leib, dass ich Macht habe, es gut oder schlecht mit dir zu machen? Du tust gut daran, endlich auf meine Fragen einzugehen. Auch das gehört zur Wahrheit über das vielgerühmte römische Recht: Schläge als Gesprächsangebot.
Dieser Gefangene kennt die Wahrheit: über die Macht des Statthalters, die nur geliehen ist. Aber nicht,
wie Pilatus denkt, vom Kaiser, sondern von Gott, ohne den der Kaiser in Rom ein genauso armer Kerl wäre
wie sein Vertreter in Jerusalem. Die Wahrheit über den Hass der religiösen Führer. Nicht, dass da einer ist, der behauptet, Gottes Sohn zu sein, ärgert sie, sondern dass da ein heiliger und liebender Gott ist, mit dem man keine Geschäfte machen kann. Der sich nicht einbauen lässt in den Kult von Geldgier, Macht und Eitelkeit.
Dieser Gefangene kennt die Wahrheit über Gott, der seinen Weg vorgezeichnet hat. Die Wahrheit von
Golgota. Lange sehen sich die beiden Gefangenen an. Jesus, Gefangener des Hasses, und Pilatus, Gefangener der Angst. Beide kennen ihre Wahrheiten. Das ist das Problem an diesem Freitagmorgen: nicht zu wenig, zu viel Wahrheit. Und worüber reden sie?
Johannes hat es protokolliert: Jesus antwortete: »Du sagst es: Ich bin ein König! Das ist der Grund, warum
ich geboren wurde und in diese Welt gekommen bin: Ich soll als Zeuge für die Wahrheit eintreten. Jeder, der selbst von der Wahrheit ergriffen ist, hört auf das, was ich sage.« Da fragte Pilatus ihn: »Wahrheit – was ist das?«
Walter Linkmann